Bärentrek Trail – Hintere Gasse
Tag 3: Sefinafurgge – Gspaltenhornhütte – Hohtürli – Oeschinensee – Kandersteg – Übernachtung im Hotel Ermitage
Montag, 8. Juli 2013
Ein Blick nach draussen: Blauer Himmel, Sonnenschein und siehe da, nur wenige hundert Meter weiter glänzten die Fenster des berühmten Drehrestaurants Schilthorn, wo James Bond auch schon Gast war.
Zwei grosse Ziele standen heute auf meiner To Do-Liste: Sefinenfurgge und Hohtürli. Der normale Wanderer bewältigt diese zwei Pässe in zwei Tagen. Ich werde es in einem versuchen und wenn möglich auch gleich noch von der Blüemlisalphütte runter nach Kandersteg steigen.
Kurz nach halb acht machte ich mich also auf zur ersten Herausforderung. Der Aufstieg zur 2612m hohen Furgge war komplett schneebedeckt und ganz schön steil. Ich war den hilfreichen Stöcken dankbar und werde es auch im weiteren Tagesverlauf noch sein.
Der Blick auf die Wetterhorn- und Jungfraugruppe wurde nach dem Passieren des Überganges nun vom Massiv der Blüemlisalp abgelöst, welches von gleissenden Firnfeldern durchzogen war. Der Abstieg war steil, aber teilweise gesichert und führte in das stille, reizwolle hintere Kiental. Das Tal, so abgeschieden es heute wirkte, ist früher gar nicht einmal so unbekannt gewesen, denn bereits in den Anfängen des Tourismus fanden betuchte Gäste meist britischer Herkunft Geschmack an der frischen Bergluft. Der Hotelier der Griesalp liess zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein verwegenes Haarnadelsträsschen (das mit bis zu 28% lange als steilste Poststrecke Europas galt) zu seiner stattlichen Herberge bauen, über die man die illustren Fremden per Kutsche hinaufbeförderte. Und weil die bleichen Damen der Noblesse damals glaubten, dass die gesunde Gesichtsfarbe der Älplerinnen vom Stallduft herrühre, verschreibte man sich der Kur, mehrmals täglich an offenen Stalltüren und Misthaufen vorbeizugehen. Unter die Prominenz mischten sich auch Lenin und Trotzki, um unten im Dorf Kiental bei so viel gesunder Luft ihre revolutionären Gedanken zu läutern, um den Umbruch ihres Landes zu planen.
Lange wurde das Kiental nur als Sommerweide genutzt. Es galt als zu abgelegen, zu wild und unsicher, um sich dort niederzulassen. Die Wälder waren voller Bären und Luchse und noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts ging man auf Wolfsjagd. Mit der Entdeckung des Alpinismus zog ganz allmählich der Tourismus ins Tal. Die Erstbesteigungen der umliegenden Berge wie Blüemlisalphorn (1860m) und Gspaltenhorn (1869m) wurden von Engländern durchgeführt. Mit dem Bau der Strasse um die Jahrhundertwende entstanden schliesslich die ersten Hotels auf der Griesalp im hinteren Teil.
Ich meinerseits schritt in tiefem Schnee im obersten Teil des Tales voran. Als ich nach einer Kurve die Gspalthornhütte erblickte, blieb mir vor lauter Faszination der Bergwelt fast die Spucke weg. Vor mir erhob sich das wirklich mächtig wirkende Blüemlisalpmassiv mit der „Wildi Frau“ und dem „Morgenhorn“. Zu Füssen lag mir der Gamchigletscher, welchen ich noch zu überqueren hatte. Ich musste sofort eine Pause einlegen. So eine Schönheit hatte ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen.
Ursprünglich wollte ich in der Gspaltenhornhütte einkehren, um meinen Wasservorrat aufzufüllen. Doch konnte ich dies auch an einem der zahlreichen Bächlein tun. Ich entschied mich also für Gletscherwasser mit Micropur und stieg sogleich hinunter zum Gletscher. Da die Moräne komplett mit Steinen und Erde überdeckt war, konnte man die Eisfelder auch ohne Sicherung alleine überqueren. Der gut ausgesteckte Wanderweg zeigte, dass er erst kürzlich revidiert wurde. Ich war also auf der sicheren Seite.
Vor dem extrem steilen Anstieg zum Hohtürli, gönnte ich mir nochmals eine Pause und ass zu Mittag von meinen Vorräten aus dem Rucksack. Dann ging es stetig hoch, noch höher und am Ende fast senkrecht dank Fixseilen und Treppen.
Der Anstieg brachte mich an den Anschlag meiner sportlichen Ausdauer! Ständig musste ich anhalten und um Luft ringen. Mein Rucksack fühlte sich an als ob er 25 Kilo wog, meine Beine gaben mir zu erkennen, dass sie für heute genügend Höhenmeter hinter sich gebracht hatten. Auch mein Rücken protestierte und so kam es mir vor, als ob ich Stunden in dieser Flanke verbrachte. Dies nicht genug, begann es auch noch zu gewittern und neben dem Regen konnte ich mich erneut durch rutschige Schneefelder wühlen.
Andauernd schaute ich auf meinen Höhenmesser, sodass endlich die 2843 Meter erreicht würden…. und plötzlich, so stand sie da – die Blüemlisalphütte in Sichtweite! Ich machte nur kurz halt, denn ich wusste, würde ich nicht sofort weitergehen, mich die Kraft in den Beinen verlassen würde. Schnell eine Cola trinken, ein Rivella einpacken und auf zum 1700 Meter Abstieg nach Kandersteg.
Ich bin die Strecke schon einmal abgestiegen und wusste um deren Länge. Doch heute kam mir der Abstieg noch länger vor. Oder lag es an dem feucht-warmen und regnerischen Wetter? Einzig das herunterrutschen auf den Schneefeldern lenkte mich ein wenig von den schmerzenden Füssen ab.
Zahlreiche Bergsteiger kamen mir entgegen. Vermutlich würden sie morgen auf das Blüemlisalphorn (3661m) aufsteigen. Sie mussten sich anstrengend mit Pickel und Stöcken den Weg hinauf bahnen – eine Vorkost was sie am Folgetag erwarten wird.
Ich meinerseits stieg gemächlich aber kontinuierlich hinab zum Schweizer Weltwunder Nummer 77: den Oeschinensee. Er wird umrahmt von einem imposanten Felsenkessel mit gewaltiger Gebirgskulisse. Senkrechte Felswände bäumen sich von seinen Ufern auf zu den vergletscherten Gipfelspitzen von Blüemlisalphorn, Oeschinenhorn, Fründenhorn und Doldenhorn.
Währen des Abstieges fiel mir wieder die Legende von der Blüemlisalp ein (nein, es ist nicht die von Polo Hofer!):
„Die sagenumwobene Blüemlisalp soll einmal von saftigen Weiden überzogen gewesen sein. Die Legende erzählt, dass ein junger Sennenbub sich da droben einst mit einem jungen Weib vergnügte. Er bettete sie in Watte, baute ihr eine Treppe aus fetten Käselaiben, damit sie ihre zarten Füsse nicht auf den steinigen Untergrund setzten musste, wenn sie von der Hütte zum Käsespeicher gehen wollte. Seine Mutter im Tale, von solchem verschwenderischen Tun erbost, eilte hinauf, um ihren Sohn zurechtzuweisen. Als sie müde und durstig auf der Alp anlangte und um einen Becher Milch bat, verhöhnte er sie und gab ihr Molke, in die er Unrat gestreut hatte. Entsetzt über solches Tun, sprach die Mutter einen fürchterlichen Fluch aus. Kaum dass sie von der Alp entflohen war, stürzten gewaltige Eismassen vom Berg und begruben die saftigen Wiesen da droben mit Hab und Gut. Und wenn man sich heute über den Moränenschutt am Hohtürli schuftet, mögen feinfühlige Ohren womöglich noch das ständige Poltern des verfluchten Sennenbubs vernehmen.“
Als ich schliesslich das lange ersehnte Kandersteg bei Regenfall erreichte, wollte ich nur noch irgendwo ein Zimmer! Im ersten Gasthof, dem Hotel Ermitage, wurde ich zugleich fündig. Ich bekam da – obwohl ich alleine war – für einen fairen Preis das Familienzimmer mit 5 Betten! Anscheinend sah ich so erledigt und müde aus. Aber ein Bett würde mir für heute reichen.
Ich entschied an diesem Abend zudem, morgen einen Ruhetag einzulegen. Erstens hatte ich mich heute mit den 1500 Höhenmetern Aufstieg und 2200 Metern Abstieg ein wenig übernommen, zweitens brachte ich nach drei Tagen bereits einiges über die Hälfte des Bärentreks hinter mich und drittens war die Wettervorhersage für morgen nicht so gut. Auch an weiteren Ausreden fehlte es mir nicht. So musste ich mal meine Kleider waschen, meine Füsse schonen, Tagebuch schreiben, die gerissene Kameratasche reparieren, in die Apotheke gehen, Proviant einkaufen….