Bärentrek Trail – Hintere Gasse
Tag 2: Grindelwald – Eiger Trail – Kleine Scheidegg – Wengen – Lauterbrunnen – Mürren – Übernachtung in der Rotstockhütte
Sonntag, 7. Juli 2013
Der Wetterbricht hielt was er versprach. Es war die ganze Nacht über trocken und sternenklar. Nach einem Morgentee schritt ich weiter voran, immer mit Blick auf die umliegenden Berge. Einzigartig waren die Ausblicke auf die Engelhörner, die die Südseite des Reichenbachtals flankierten, gefolgt vom Wellhorn und dem Wetterhorn, das sich vor allem beim weiteren Abstieg von der Grossen Scheidegg als gewaltiges Bollwerk präsentierte. Auch die Felsbastion des Eigers rückte nun immer näher.
Bevor mich tief unten im Talgrund der Schwarzen Lütschine schliesslich die mondäne Zivilisation von Grindelwald empfängt, schimpfte ich noch einige Male lautstark über die Wanderwegführung auf der asphaltierten Strasse. In Nullkomanichts schmerzten meine Füsse und dies schon am zweiten Wandertag!
Das keltische Wort Grindel bezeichnet ein Stück Holz, das als Abschrankung diente, der „Grindel“-Wald somit eine waldige vom Rest der Welt abgeschnittene Tallandschaft, was ja auch bis zum Bau der ersten Strassen zutraf. Die ersten Bewohner waren Bergkelten, die über die Pässe der Grossen und Kleinen Scheidegg ins Tal einwanderten, sich erst in den höheren Lagen ansiedelten, dann aber ihre Scheu vor dem Wald verloren und in die milderen Lagen des Talgrunds zogen und so die weit verstreute Siedlung Grindelwald entstehen liessen.
Mein Weg ging weiter in Richtung Kleine Scheidegg. Hier verliess ich für wenige Stunden die Originalroute des Bärentreks, um den Eigertrail (ein Wanderweg, welcher direkt unter der Eigernordwand hindurchführt) zu gehen. Wenn ich schon mal hier war, wollte ich die mächtige Nordwand des Eigers mal von Näherem betrachten.
Eiger, Mönch und Jungfrau - drei Berge, die zum Symbol geworden sind, so dass aus den hintersten Winkeln der Welt die Menschen herbeiströmen, um dieses imposante Dreigestirn aus Fels und Eis wenigstens einmal in ihrem Leben aus der Nähe bestaunen zu können. Vor allem Japaner nehmen es sogar auf sich, bei dichtem Neben zum Jungfraujoch hinaufzufahren, um immerhin ein Foto auf berühmtem Boden zu schiessen, auch wenn von den Bergen rein gar nichts zu sehen ist, was der guten Lause der Asiaten aber nichts anzuhaben scheint.
Was die Erschliessung hochalpiner Traumplätze für den Massentourismus betrifft, sind die Eidgenossen Weltmeister. Eine Zugstrecke, einfach durch den Eiger gebohrt mit einer Bahnstation zwischen Mönch und Jungfrau, auf 3545 m Höhe, das ist schon unglaublich, wenn man auch noch bedenkt, dass diese bereits um die Jahrhundertwende (1896-1912) gebaut wurde. Ehrgeizige Planer wollten die Bahn gar bis auf die Gipfel von Jungfrau und Eiger führen, was dann aber scheiterte.
Somit ist die Endstation Jungfraujoch, auf 3545m höchstgelegener Bahnhof Europas. Das Restaurant „Top of Europe“ ist ein Monster aus Beton, Holz und Glas mit Souvenirläden, Eispalast und einer ständigen Ausstellung der meteorlogischen Forschungsanstalt.
Mit dem Mönch ist alles schon ganz anders. Der fiel lange Zeit, so eingeklemmt zwischen seinen markanten Geschwistern Eiger und Jungfrau, gar nicht recht auf, wurde eher als Anhängsel des Eiger betrachtet, was ihm die Namen Innereiger, Hintereiger oder Eigers Schneeberg einbrachte. Erst im Jahre 1790 tauchte erstmals die Bezeichnung Mönch auf. Die einen führen diesen Namen auf die München zurück, kastrierte Hengste der Mönche von Interlaken, die auf den Weiden am Fusse des Mönchs den Sommer verbrachten, die anderen sehen in der Schneehaube des Berges die Kapuze eines Franziskanermönches.
Die Jungfrau wird erstmals schriftlich in einer Karte von 1577 erwähnt. Die weisse Reinheit mag zu ihrem Namen inspiriert haben oder rührt er daher, weil die im Besitz des Frauenklosters Interlaken liegende Alpgründe der Lauterbrunnentäler zu ihren Füssen als „Jungfrau Alpen“ bezeichnet wurden? Ihr Name mag die magische Ausstrahlung noch forcieren, unzählige Bergveteranen kämpfen sich jährlich auf den 4158m hohen Gipfel des Modeberges, der im August 1811 von den Gebrüdern Meyer aus Aarau sowie den Wallisern Volker und Bortis erstbestiegen wurde.
Nach einem kurzen Ausflug auf der Kleinen Scheidegg, peilte ich langsam Wengen an. Doch immer wieder musste ich innehalten, und auf die perfekte Bergkulisse starren. Meist zusammen mit Duzenden von Japanern...
Sozusagen als „Wiedergutmachung“ für den „geteerten“ Abstieg nach Grindelwald von heute Morgen, gönnte ich mir nun die Seilbahn hinunter nach Lauterbrunnen. Denn nochmals einen Abstieg auf einer Strasse oder einem Feldweg hätten meine Füsse wohl verweigert.
Und schon wieder erreichte ich einen berühmten historischen Ort – war doch schon mein Kollege Goethe 1779 bei seiner zweiten Reise in die Schweiz hier. Ihm gefiel es hier beim „Lauternen Wasser“ so gut, dass er es mit seinem Gedicht „Gesange der Geister über den Wassern“ gleich literarisch verewigte:
„Strömt von der hohen,
steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
zum glatten Fels
und leicht empfangen
wallt er verschleiernd
leis rauschend
zur Tiefe nieder.“
Das Tal der weissen Lütschine oder Lauterbrunnental ist sicherlich eines der imposantesten Trogtäler der Alpen. Den flachen Talboden umsäumen senkrechte Felswände und die Höhenterrassen darüber tragen die stattlichen Siedlungen Wengen und Mürren, die nicht nur wegen ihrer Aussicht, sondern auch durch ihre Autofreiheit von Urlaubern sehr geschätzt werden. Durch Heirat fielen einem Walliser Feudalherren Ende des 13. Jahrhunderts grössere Besitztümer des Lauterbrunnentals zu. Dieser veranlasste daraufhin die Umsiedelung von Leibeigenen aus dem Lötschental. Der Walliser Einfluss im Lauterbrunnental hat sich bis heute durch diverse Ähnlichkeiten im Dialekt niedergelassen. „Ein Wirtshaus ist nicht vorhanden, doch sind bei einem Bauern Milch und Brot zu haben, auch ein Nachtlager…“, weiss der Baedeker-Reiseführer noch 1850 von Mürren zu berichten. Heute sind Mürren und Wengen durchdrungen von Hotels und Ferienwohnungen, was dem Charme der Orte im Wesentlichen aber nichts anhaben konnte. Vor allem Sportgeschichte hat hier für Schlagzeigen gesorgt und wird es auch weiterhin tun, über das jährlich im Januar stattfindende berühmt-berüchtigte Lauberhorn-Rennen von Wengen oder das Inferno-Rennen über Mürren nach Lauterbrunnen.
Meine Routenwahl und die vorgeschrittene Zeit sagten mir, dass ich heute unbedingt noch Mürren erreichen sollte. Ansonsten ist ein Überqueren der Sefinenfurgge und Hohtürli am Folgetag ein zu grosses Unterfangen. Ich sprang also auf die nächste fahrende Seilbahn hinauf zur Grütschalp und schlug den Weg in Richtung Mürren ein.
Mit mürrisch hat der Ort jedoch nichts zu tun. Das lateinische „murus“ für Mauer gab dem Dorf auf der Felsenmauer hoch über dem Lauterbrunnental seinen Namen. Nachdem ich Grimmelwald passierte, suchte ich aktiv nach einem möglichen Nachtlager. In der Zwischenzeit zog der Himmel zu und es war grausig neblig. Ich suchte und suchte, und kam immer in höhere Lagen ohne Bäume, welche mir den notwendigen Sicht- und Tauschutz geben sollten. Entweder es war der Boden zu steil, um ein Biwak zu erstellen, gab es bewohnte Alphütten oder die Kühe grasten in den Ebenen. Vor allem Letzteres wollte ich vermeiden. Nicht dass noch eine Kuh- oder Schafherde mich um den Schlaf bringt!
Beim Umhersuchen begegnete ich Jacqueline, ebenfalls eine einsame Wanderin, welche um diese späte Uhrzeit noch unterwegs war. Sie fragte mich, ob ich auch auf die Rotstockhütte ginge. Weil mir nichts Besseres einfiel sagte ich „Ja, ich denke“. Es hätte noch freie Plätze, aber sie müsse sich beeilen, ansonsten würde es nichts mehr zu essen geben.
Ich liess sie ziehen und tat so, als müsste ich noch telefonieren. In Wirklichkeit schaute ich mich erneut nach einem Plätzchen für die Nacht um. Aber vergeblich. Spätestens als ich bemerkte, dass ein Bauer per Feldstecher den komischen Kautz (also mich) beobachtete, entschied ich mich für die Rotstockhütte.
Jacqueline holte ich kurz vor der Hütte wieder ein und lustiger weise erreichten auch zwei Amerikaner noch so spät die Unterkunft. Die freundliche Hüttenwartin Luzia kochte dann ein zweites Mal für die neuen Gäste. Die Rotstockhütte ist noch eine richtige traditionelle, kleine Berghütte mit Charakter, wo der Gast noch selber abräumt und abwäscht. Es ist schon lange her, dass ich auf so einer klassischen Hütte nächtigte. Es machte richtig Spass.