Der anstrengende Weg auf die Alpe Scaradra di Sopra
Ein Winter-Abenteuer-Wochenende mit Dominik Baumgartner in den Schattentälern des Tessins.
Samstag, 14. Dezember 2013
Seit drei Wochen herrschte oberhalb der Nebelgrenze super Sonnenschein. Auch für dieses Wochenende war keine Schlechtwetterfront in Sicht; eine ungewohnte Situation, wenn man das Jahr nochmals Revue passieren lässt. Unsere Reise begann in der Kantonsstadt von Basel-Land. Um 07:00 Uhr fuhren wir im kleinen Citröen C3 los. Ein anderes Auto stand uns nicht zur Verfügung.
Die Strecke durch das lange Loch im Gotthard meisterten wir allemal. Erst als wir bei Biasca in Richtung Olivone hochfuhren, fielen die ersten Gedanken, ob wir wohl bis zum Luzzone Stausee hochfahren könnten. Schnee hatte es auf den Strassen zwar schon lange keinen mehr, zu stark war die Sonne die letzten Tage. Doch das nun vereiste Schmelzwasser heftete sich fest am kalten Strassenbelag.
Als wir schliesslich bei der hintersten Ortschaft Aquilesco (1‘217m) im Tal ankamen, sahen wir das Fahrverbotsschild zum Stausee gleich am Eingang. Zwar fuhren wir noch ein Stückchen aufwärts, aber dort erkannten wir, dass ein Weiterkommen mit dem C3 unmöglich war. Also parkten wir beim Dorfbrunnen und verteilten das viele Gepäck auf unsere zwei Rucksäcke.
Wir hatten eine halbe Expeditionsausrüstung dabei, denn wir wussten nicht recht, was uns auf dem Weg erwartete. Riet der Hüttenwart unseres Zieles doch davon ab, den Weg auf die Alp Scaradra di Sopra im Winter auf uns zu nehmen.
Zu unserem Equipment zählten Schneeschuhe, Pickel, ein paar Stöcke, 60m Einfachseil, Steigeisen, Klettergurt mit Zubehör, Eisschrauben, zwei Fotoausrüstungen (wir fotografieren beide leidenschaftlich), Stativ, Wein, Bier, Tee, Verpflegung, Schlafsack, Winterkleider und mehr. Also sehr viel. Es soll ja schliesslich ein gemütlicher Wochenendausflug werden… Eine warme Berghütte alleine für uns, gutes Essen, ein wenig Alkohol und viel Zeit fürs Fotografieren. Immerhin war Vollmond, da würde es gute Bilder geben. Coole Sache also.
Dass wir nicht direkt beim Stausee loslaufen konnten machte uns nichts aus. Schliesslich schien die Sonne, es war schön mild, ja schon fast frühlingshaft. Unterhalb des Stausees machten wir erst eine Pause und versuchten so, die Rucksäcke mit dem Verzehr des Lunchs ein wenig leichter zu machen :)
Wirklich viel gebracht hat’s nicht. Schliesslich trugt Dominik das Essen und ich das Seil… Doch die faszinierende Umgebung liess die Anstrengung vergessen. Bald waren wir auf der Staumauer und betrachteten respektvoll die Kletterroute, welche mitten in der Betonwand bis zu uns hoch kam. Psychische Stabilität wird wohl hier die Hauptvoraussetzung für ein Gelingen sein.
Nun folgte der lange Tunnel am rechten Ufer entlang des Lago di Luzzone in Richtung Garzott. Es war ein spezielles Gefühl in der mit Eiszapfen dekorierten Röhre unterwegs zu sein. Kurz vor Garzott verliessen wir dann den normalen „Sonntags-Panorama-Wanderweg“ und begaben uns ins wilde Tal Scaradra. Hier war der Pfad (T3) komplett schneebedeckt und nicht gespurt. Doch ein Kenner findet den Wegverlauf auch im weissen Schneekleid.
Was uns mehr zu schaffen machte war die Eigenschaft des Schnees. Denn Pulverschnee war dies schon lange nicht mehr. Eher Zuckerschnee mit einer harten, verkrusteten Oberfläche. Wir brachen also immer wieder ein. Ein Fall für die Schneeschuhe.
Doch auch mit diesen kamen wir nur sehr langsam und mühsam vorwärts. Schliesslich wogen unsere Rucksäcke noch zusätzliche 17kg. Die ersten heiklen Stellen in der Talverengung des Ri di Scaradra meisterten wir problemlos. Dann öffnete sich das Tal zunehmend und der Pizzo di Cassimoi (3129m) erschien dominant am Talende.
Obwohl vor uns nur etwa zwei Kilometer Wanderweg bis zum Steilaufstieg zur Alpe Scaradra di Sopra lagen, benötigten wir fast zweieinhalb Stunden für das kurze Stück. Immer wieder brachen wir bis zur Hüfte ein, spulten uns im Zuckerschnee Zentimeter um Zentimeter vor. Selbst jede Bachüberquerung wurde zum Highlight, denn wir sahen durch die Schneeschicht die Steinbrocken nicht, und brachen somit zwischen diesen immer wieder in die Hohlräume ein.
Eine weitere organisatorische Dummheit war zudem, dass wir nur zwei Stöcke dabei hatten, und somit das Gewicht beim Gehen mit den Schneeschuhen nicht optimal verteilen konnten. Mit viel Biss, Fluchen und übersäuerten Oberschenkeln erreichten wir schliesslich das Talende und die Abzweigung, wo der nicht erkennbare Wanderweg hinauf auf die Alpe Scaradra die Sopra abzweigte.
Nach einer kurzen Pause nahmen wir den Aufstieg in Angriff. Schliesslich trennten uns nur noch 500m Luftlinie von unserer Unterkunft. Aber halt eben nur waagrecht, nicht senkrecht. Wir schufteten uns langsam den Berg rauf. Pickel reinhauen, prüfen ob er hält, erst ein Bein, dann das andere mit den Schneeschuhen an den Füssen nachziehen.
Doch das Couloir verengte sich immer mehr wir weiter stiegen. Irgendwann war es nicht mehr verantwortbar, zumal viele Wasserläufe links und rechts von uns eisige Rutschbahnen ins Tal boten. An einem einigermassen sicheren Ort zogen wir schliesslich die Schneeschuhe aus und nahmen das Seil hervor. Es dunkelte bereits, als ich schliesslich mit zwei Pickeln bewaffnet den Hang hinauf kletterte. Ab und zu konnte ich mit Schlingen eine Zwischensicherung anbringen.
Als Dominik mit seiner Taschenlampe auf dem Kopf nachstieg, war es bereits stockdunkel. Ein verzweifeltes Lachen durchfuhr mich. War diese Strecke im Sommer doch in einer halben Stunde zu bewältigen… Nach einer langen Seillänge hatten wir es schliesslich geschafft! Wir waren auf der Hochebene angekommen. Wir fanden sogar einen Wegweiser, welcher – wie sein Name besagt – den Weg zur Hütte wies. Doch das war auch schon alles. Denn weiter als etwa 10 Meter konnten wir mit unseren Spots der Stirnlampen nicht sehen. Jeder grosse Felsbrocken sah von weitem aus wie die sehnlichst erwartete Berghütte.
Schliesslich kam uns der Mond mit seiner vollen Umrundung zu Hilfe. Und siehe da, dort war sie. Wir waren auf direktem Kurs trotz der nächtlichen Blindheit. Doch was stand da an der Fenstertüre „Chiusa“! Das kann doch nicht war sein! War es auch nicht. Die Hütte war nicht verschlossen.
Wir machten uns gleich auf, den kleinen – nein sehr kleinen – Gusseisenofen einzuheizen. Doch wir erkannten sofort: wirklich warm würde es uns hier heute nicht werden. Doch immerhin wurde er so heiss, dass wir unsere Spaghetti, die Tomatensauce und das Teewasser kochen konnten.
Uns war beiden klar, dass aus dem für Sonntag vorgenommenen Gipfelziels Pizzo di Cassimoi (3129m) nichts wurde. Zu beschwerlich war der Weg hierher und bestimmt auch auf den weiteren 1‘000 Meter höher gelegenen Gipfel. Zudem mussten wir uns morgen etwas einfallen lassen, wie wir wieder von diesem Plateau runterkamen. Dies war wohl nur mit Abseilen machbar. Doch diese Sorgen vertagten wir gerne auf morgen.
So sassen wir den ganzen Abend vor dem kleinen, wärmenden, schwarzen Objekt und genossen den mitgebrachten Wein und das Bier. Die Nacht verbrachten wir ebenfalls vor dem Ofen im Aufenthaltsraum (der Schlafraum für 13 Personen befand sich im Dachstock). Die vorhandenen Matratzen waren super und dank unseren warmen Schlafsäcken verbrachten wir eine sehr angenehme Nacht. OK – mit einer Ausnahme: Draussen „Bisi machen“ im Schneegestöber war nicht soooo toll. Die geplanten Nachtaufnahmen liessen wir ebenfalls bleiben.
Sonntag, 15. Dezember 2013
Ein Blick in das Hüttenbuch bestätigte uns was wir schon wussten: Zwischen den Monaten Oktober und Mai wird diese Hütte nie besucht. Eine Premiere also?
Wir liessen uns Zeit mit dem Frühstück. Um 11:00 Uhr liefen wir, bereits angeseilt von der Hütte los. Für jemanden der diese Gegend kennt muss dies wohl übertrieben vorkommen. Doch schon beim Steilabstieg des T3-Wanderweges waren wir über das Seil sehr froh. Schnell fanden wir einen Stein, wo wir das Seil herumlegen, und so Abseilen konnten. Für mich war es das erste Mal mit Schneeschuhen abzuseilen. Ein kompletter Blödsinn. Beim nächsten Stand zogen wir sie umgehend aus.
Dann war noch ein wenig Kletterei angesagt, bevor wir eine durchgehende Schneedecke erreichten, auf der wir auf dem Hosenboden runter rutschen konnten. Immer in der Hoffnung, nicht zu schnell zu werden, oder dass sich die Schneedecke plötzlich in eine Eisdecke wandelte.
Wir waren beide sichtlich erleichtert, als wir den Talboden erreichten. Jetzt mussten wir „nur“ noch dem Flüsschen entlang in Richtung Lago di Luzzone laufen. Dies erforderte aber wieder Kräfte und die Oberschenkel protestierten heftig!
Ich versprach meinen Oberschenkeln - würden wir jemals wieder zu Hause ankommen - umgehend mit ihnen in das heisse Jacuzzi zu gehen. Das half. Nach einer kurzen Pause bei der Alpe Scaradra di Sotto erreichten wir nach ein paar heiklen Stellen bald wieder den ersehnten Familienwanderweg entlang dem Lago die Luzzone.
Eine gute Stunde später erreichten wir um 16:00 Uhr schliesslich unser Auto. Die nassen Füsse und Beine (von den Einbrüchen in die Bäche) waren uns egal. Wir hatten es geschafft – ein Hoch auf verrückte Touren. Ich bin sofort wieder dabei!