Kampenwandüberschreitung
Die Überschreitung des kompletten Grates der Kampenwand weit über dem Chiemsee.
Dienstag, 30. Juli 2019
Für den diesjährigen Urlaub in Bayern haben Tanja und ich bereits einige Monate im Voraus eine Klettertour geplant. Wir wollten den kompletten Grat der Kampenwand von West nach Ost überqueren. Dokumentationsmaterial dazu gibt es viel zu finden, sogar gute Topos sind im Internet frei verfügbar.
Wir verliessen uns jedoch auf die Informationen des Kletterführers Bayrische Alpen (Band 1), in welchem sehr lohnende Alternativrouten u. a. über die zahlreichen Gendarmen beschrieben sind. Zudem erhält man darin noch den einen oder anderen brauchbaren Tipp bei der Routenfindung.
Tanja wollte die Unternehmung auf zwei Tage aufteilen, denn je nach Aufstiegs- und Abstiegsvariante konnte ein einzelner Tag schon lange und anstrengend werden. So waren wir uns bald einig, dass wir zwei volle Tage für uns hatten. Die Kinder würden bei Oma und Opa im Tal bleiben. Drei Wochen zuvor begannen wir mit dem Outdoor-Klettertraining für Tanja im Jura. Es war schliesslich einige Zeit her, dass Tanja in den Vertikalen unterwegs war.
Trotz aller Planung mussten wir schliesslich anfangs Woche umdisponieren. Das Wetter war sehr unbeständig und der einzige Tag, an welchem die Tour durchführbar sein würde, war der Dienstag. So fuhren wir von Aschau am Chiemsee mit der ersten Seilbahn um 09:00 Uhr hinauf zur Sonnenalm, wo wir schon lange ein kleines Zimmer gemietet hatten. Dort deponierten wir einen Rucksack und machten uns sogleich los auf die Tour. Das Wetter war heute stabil und wir konnten uns für das Klettern bis am Abend Zeit nehmen.
Noch war es neblig und die Aussicht wurde uns nicht vergönnt. Doch für den Zustieg zum westlichen Gratfuss störte uns dies nicht weiter. Wir stiegen um 10:30 Uhr in die Route Torweg (4+) ein und querten einige sehr schöne Seillängen, u. a. durch ein prachtvolles Felsentor. Dann ging es im vierten Grat knackiger weiter bis auf den Grat hoch, wo wir wenig später über Blockgelände (I/II) den Westgipfel erreichten.
Auf der Südseite stiegen wir über einen schmalen Pfad ein wenig hinunter und konnten bald die eindrucksvollen und mächtigen Felsnadeln des Gmelchturms und Teufelsturm erblicken. Den Gendarm des Gmelchturms erklimmten wir über die Nordwestverschneidung (3+) und denjenigen des Teufelsturms über die Nordwestkante (3+). Beide Klettereien bereiteten Freude – auch wenn die Schlüsselstellen inzwischen blanker Marmor waren und der Schwierigkeitsgrad vermutlich nach oben korrigiert werden müsste.
Nach einer kurzen Snack- und Trinkpause seilten wir zweimal (45m & 10m) auf der Nordseite ab. Die Abseilstände dazu waren mit Ringen top eingerichtet. Nun befanden wir uns in der tiefen Scharte, wo sich auch der einzige Notausstieg befand. Dieser musste schon von einigen Kletterern in Anspruch genommen werden, denn die bevorstehende Verschneidung auf den Hauptgipfel ist nicht jedermanns Sache!
Zwar liegt die Bewertung für die Kletterei der Verschneidung bei einer 4+, doch die Risse sind hier immer sehr lange nass – so auch heute, die vorhandenen Griffe schmierig, und die Hackenabstände weit auseinander. Kommt hinzu, dass für mobile Sicherungen in der ersten Seillänge nichts Geeignetes zu finden ist.
Entsprechend benötigte ich einige Anläufe, bis die Route gemeistert war. Relativ flott kam dann auch Tanja nach, welche im Nachstieg für diese Seillängen den Rucksack trug. Im oberen Teil bestanden schliesslich wieder sehr viele Möglichkeiten für mobile Sicherungen mit Friends und Keilen. Zu erwähnen gilt es an dieser Stelle, dass die ganze Unternehmung sehr alpin ist und nichts mit dem Sportklettern zu tun hat. Mobile Sicherungen wie Friends, Keile oder Sanduhren müssen gelegt werden können, Borhacken sind nur sehr vereinzelt vorhanden!
Auf dem Hauptgipfel auf 1'669m gönnten wir uns nochmals eine Pause. Die Sonne war jetzt hervor und die Aussicht auf die umliegende Bergregion und das Bayrische Meer der Chiemsee wurde immer besser!
Den Weg zur Schlechinger Scharte hinunter bestritten wir vorsichtig kletternd und seilten einmal sogar etwa 40 Meter hinunter (Ringe vorhanden). Den Eingang zur Kaisersäle – ein enger Durchgang in Richtung Ostgipfel zwischen zwei senkrechten Platten – übersahen wir anfangs fast und stiegen auf einem sehr verwachsenen Pfand hinab.
Nach ein paar Minuten kehrten wir schliesslich wieder zum Grat zurück und schmiegten uns zwischen dem restlichen meterhohen gefrorenem Schneehaufen und den schmierigen Wänden durch die kalte Felshöhle.
Es folgte ein abrupter Szenenwechsel. Wir befanden uns nun plötzlich inmitten der touristischen Wanderheerscharen, welche alle auf dem ausgeschilderten Bergwanderweg zum relativ einfach erreichbaren Ostgipfel unterwegs waren. Doch diesen Gipfel wollten wir der Vollständigkeit halber ebenfalls mitnehmen; denn er ist es allemal wert!
Wir deponierten unser Klettermaterial im Rucksack, versteckten diesen und reihten uns auf dem begehrten Wanderweg ein. Ein Vorwärtskommen war für viele – ich nenne sie mal Flachlandindianer – nicht einfach. Immer wieder galt es Felsblöcke zu überklettern, Felsstufen abzusteigen oder sich gar an einem fixen Stahlseil über einen luftigen Quergang entlang zu bewegen.
Doch nichtsdestotrotz, der Ostgipfel mit seinem riesigen Kreuz und der Rundumsicht ist allemal eine Begehung wert! Nach einem Gipfelfoto stiegen wir hinunter zur Steinlingalm. Ein Weissbier und eine Brotzeitplatte waren schon lange fällig.
Zu unserem Erstaunen war trotz Hochsaison überall hier oben gar nicht so viel Betrieb. Neben uns überkletterte nur eine weitere 3er-Seilschaft die Kampenwand. Und auch auf der Sonnenalm, wo wir den Abend und die Nacht verbrachten, waren nur zwölf weitere Personen angemeldet. Nach 17:00 Uhr als die Gondelbahn ihren Betrieb einstellte und als der letzte Gleitschirmflieger über den Grasbuckel in die Höhe startete, herrschte hier oben der absolute Frieden.
Mittwoch, 31. Juli 2019
Positiv erstaunt waren wir über die tollen, kleinen Zweibettzimmer, das Ambiente und das sehr gute Essen auf der Sonnenalm. Wir waren uns einig, dass wir beide sofort wieder bereit wären, eine Tour mit Übernachtung auf der Kampenwand zu unternehmen. Vielleicht ja schon im nächsten Urlaub, wenn wir wieder in Bayern sind. Kletterrouten gibt es ja zur Genüge.
Am Tag darauf wurde die Sonnenalm ihrem Namen nicht gerecht. Doch das wussten wir im Voraus. Glücklich, den richtigen Sommertag der Woche für die Tour gewählt zu haben, stiegen wir in einer Stunde und vierzig Minuten über den eher langweiligen Wanderweg hinunter nach Aschau. Das nächste Mal würden wir die Seilbahn nehmen (trotz des hohen Preises).
Als wir das Auto erreichten, begann es zu regnen. Perfektes Timing. Perfektes Tourenende.