Eiger-Überschreitung: Ostegg - Mittellegi - Eiger - Eigerjöcher
Alpines Bergsteigen im Reich der Berner Alpen.
Dienstag, 08. September 2020
"Den Eiger kümmerts nicht". Dieser Satz ist mir im Gedächtnis geblieben, seitdem ich am 25. Juli 2009 mit der Zahnradbahn hoch zum Jungfraujoch gefahren bin, um am Tag darauf die Jungfrau zu besteigen. Er stand eingemeisselt auf einer schönen Felsplatte an der Eigerwand (siehe Foto).
"Den Eiger kümmerts nicht". Ein ganz einfacher Satz, der doch so viel Wahres aussagt. Ob's ihn wohl auch nicht gekümmert hat, als sich die Jungfraubahn 1912 von der kleinen Scheidegg durch seinen dicken Bauch auf das Jungfraujoch gebohrt hat? Vermutlich nicht. Auch wird es ihn nicht kümmern, wenn die Bergsteiger seinen Rücken hochkraxeln, um vom Top-of-Eiger die fantastische Aussicht der Berner Alpen zu geniessen. Ich hoffe es auf jeden Fall. Denn dahin waren Dominik, ich und Tobi, unser Bergführer, unterwegs.
Unsere Aufstiegsroute sollte über den Ostegg- und Mittellegi-Grat, der Abstieg über die Eigerjöcher erfolgen; also die komplette Überschreitung. So verlassen wir bereits in Alpiglen wieder die Zahnradbahn, in welche wir in Grindelwald gestiegen warnen, und schreiten los dem Eigertrail entlang in Richtung Osten.
Unser heutiges Ziel ist die Eiger-Ostegg-Hütte (Selbstversorgung). Sie liegt grossartig auf 2'316 Metern Höhe wie ein Adlerhorst mit kleiner Alpwiese davor. Die umfassende Aussicht auf Grindelwald und die umliegende Berglandschaft ist fantastisch und einzigartig. Gegen Westen sieht man bis zum Thunersee mit dem markanten Beatenberg, der Blick nach Osten zeigt die Grosse Scheidegg mit Wetterhorn, Schreckhorn und Lauteraarhorn.
Um an diesen Ausgangspunkt der Ostegg-/Mitteleggi-Gratüberschreitung zu gelangen, verliessen wir den Eiger-Trail und folgten einem gut ausgebauten Pfad unterhalb der Felsen, bis wir den Durchschlupf des Osteggs erreichten. Ab hier führte ein kurzer und gut mit Stahltritten und -seilen gesicherter Klettersteig hoch zur Eiger-Ostegg-Hütte.
Wir nutzten diese kurze Kletterpartie, um das Seilhandling, Gehen und Klettern in der Dreierseilschaft zu üben. Ich war fortan immer in der Mitte und mittels einem Shunt, eine sogenannte Seilklemme, in die Seilschaft eingebunden. Tobi war logischerweise der Vor- und Dominik der Nachsteiger.
Während Dominik und ich uns der Aussicht und der wärmenden Sonne widmeten, bereitete Tobi flink eine Brotzeitplatte vor. Der Zufall wollte es, dass es gerade noch zwei Bierdosen im Getränkelager hatte. So kurz vor Saisonende hatte ich eigentlich nicht mehr damit gerechnet.
Als das Abendessen fertig war, ging zeitgleich die Sonne am Horizont unter. Dieses Szenario durften wir uns nicht entgehen lassen. Die Suppe konnten wir auch noch lauwarm essen; einen Sonnenuntergang in dieser Kulisse würden wir jedoch so schnell nicht mehr sehen.
Mittwoch, 09. September 2020
Wir starteten um 07:00 Uhr als es bereits hell war. Den gut erkennbaren Wegspuren und partiellen Steinmännchen folgend, kraxelten wir durch Schrofen und Felsstufen bis zu Pt 2'706. Die Temperaturen waren optimal und ich fühlte mich mit dem gebührenden Respekt ready für den Tag.
Als wir den Ostegg-Grat erreichten und die Sonne uns ins Gesicht schien, war das Feeling noch besser und es konnte losgehen. Vor uns warteten die zahlreichen "Hörnli" (Felstürme), welche es galt zu überklettern. Erst danach würden wir auf den Mitteleggi-Grat treffen, welcher uns zur berühmten Mittellegihütte führen würde: Der Stützpunkt einer jeden Eigerbesteigung über den spitzen Mittellegigrat.
Es dauerte nicht lange bis wir ein eingespieltes Team waren. Doch die meiste Arbeit hatte Tobi: Vorsteigen, Sicherungen legen, Nachsichern, Seileinnehmen, Seilverkürzung und das ganze wieder von vorne. Dominik und ich hatten dazwischen jeweils eine kurze Verschnaufpause, nach welcher wir jedoch immer wieder Vollgas geben mussten und unseren Puls in die Höhe trieb.
Belohnt wurden wir mit dem spektakulären Blick in Richtung Eiger und auf berühmte Gipfel, wie das Wetterhorn, Schreckhorn und Fiescherhorn. Was war dies hier für eine wilde Berglandschaft!
Wir näherten uns dem bekannten "Durchschlupf" am Ostegg-Grat. Ein enges Loch, durch welches man sich zwängen muss, um auf die andere Seite des Grates zu gelangen. Hier nutzten wir das Absatteln des Rucksacks auch für eine kurze Pause. Doch kurz meint wirklich kurz. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, denn zu Dritt waren wir wesentlich langsamer unterwegs als wie eine Zweierseilschaft.
Nach einem Abseilmanöver erreichten wir wenig später den berühmten "Hick". Hier galt es zwei Seillängen im fünften Schwierigkeitsgrat zu Klettern. Mit Bergschuhen und schwerem Rucksack! Zum Glück hatte es Schlingen und Eisenstifte, um sich festzuhalten. Ich hatte es gar nicht erst versucht "sauber", also ohne p. a., zu klettern. Ich würde meine Kraft für die nächsten 48 Stunden noch benötigen.
Der weitere Weg bis zur Mittellegi-Hütte zog sich in die Länge. Zwar zeigte sich das Gelände einfacher und es konnten Passagen am kurzen Seil gegangen werden, doch geschenkt bekommt man auf dem Ostegg- und dem Mittellegi-Grat nichts!
Wir waren froh, als wir nach gut 10 Stunden die Hütte erreichten und es nicht lange dauerte, bis das warme Abendessen serviert wurde. Aufgrund von Corona war die Hütte nur zu 50% belegt und jede zweite Matratze blieb frei.
Die im Jahr 2019 renovierte Hütte kommt modern und trotzdem heimelig daher. Die Bewirtung ist freundlich und das Essen gut. Trotz Lampenfieber auf den morgigen Tag fühlte ich mich wohl. Ob ich auch gut schlafen kann? Eines ist sicher: Den Eiger kümmerts nicht.
Donnerstag, 10. September 2020
Als letzte Seilschaft brachen wir kurz nach 05:00 Uhr auf. Den am Vorabend oft bestaunten Grat folgten wir im Schein der Taschenlampen in Richtung der ersten steilen Aufschwünge.
Bald kamen wir mit dem Schneefall der vergangenen Woche in Kontakt. An den Schattenstellen und Nordflanken waren die Felsen teilweise noch weiss überzogen. Auch gab es einige felsige Abschnitte, welche eine Eisglasur aufwiesen.
Doch wir waren über die Verhältnisse mehr als glücklich! Schliesslich hätte der frühe Schneefall fast zur Absage dieser Tour geführt. Dank den vergangenen, milden Spätsommertagen, welche dem Niederschlag zugesetzt hatte, konnten wir den Grossteil des Grates schnee- bzw. eisfrei und ohne Steigeisen begehen.
Wir erreichten die Stelle des Mittellegi-Grates, welche mit dicken Fixseilen ausgerüstet ist. Ich kann mir nicht erklären, weshalb gewisse Passagen mit diesen Kordeln ausgestattet sind und andere wiederum nicht. Evtl. liegt es daran, dass dort der Fels noch mehr abfallend geschichtet ist und/oder oft schnee- bzw. eisverhangen ist.
Wie auch immer: Es war eine willkommene Abwechslung. Wobei es sich anriet, sich nicht nur hochzuziehen, sondern wenn möglich zu klettern. Denn bei allem Affendasein werden die Arme bald müde werden!
Es folgte ein Aufschwung nach dem anderen und beim Blick auf die Gratschneide hatte ich immer den Eindruck, dass wir bald am Gipfel sind: "Nur noch einer". Aber dann waren es doch noch zwei, drei und am Ende noch eine kurze, aber ausgesetzte, verschneite Gratschneide.
Umso grösser war die Freude als wir kurz vor 12:00 Uhr den Gipfel erreichten. Alleinig am Gipfel die Aussicht geniessend, gönnten wir uns eine kurze Pause. Dabei fiel unser Blick auch auf die Eigerjöcher, welche uns den Abstieg weissten. Ein jeder Mittellegigrat-Begeher weiss, der Gipfel des Eigers nur die halbe Miete ist! Denn der Abstieg zum Jungfraujoch über die vielen Jöcher ist lange und fordernd.
Tobi leistete hervorragende Arbeit. Immer auf Zack, konzentriert und effizient, führte er uns Stück für Stück hinunter. Hier mal Abseilen, da mal Abseilen und weiter geht es mit angezogenen Steigeisen über Firngrate, Geröllhalden und schneebedeckte Felsen.
Nach Pt. 3700 war auch nochmals anregende Kletterei in kompaktem Fels angesagt. Echt toll, was dieser Abstieg alles zu bieten hat. Doch der Blick auf die Uhr beunruhigte uns ein wenig. In der Zwischenzeit war es bereits später Nachmittag geworden und die letzte Bergbahn soll angeblich um 16:45 Uhr beim Jungfraujoch losfahren.
Wir waren als Dreierseilschaft erheblich langsamer unterwegs, als wenn die Tour zu zweit begangen wird. Es musste viel öfters abgesichert werden, denn Tobi hätte uns im Notfall alleine nicht halten können, was bei einem einzelnen Gast am kurzen Seil gut bzw. besser möglich ist. Also waren immer Zwischensicherungen notwendig und dies ist zeitraubend. Das gleiche gilt für das Abseilen. Hier muss logischerweise mit 1/3 Zeitzuschlag gerechnet werden.
Doch wir gaben nicht auf. Im Eilmarsch ging es nach dem südlichen Eigerjoch hinunter zum Mönchsjoch und anschliessend rennend auf der gewalzten Piste bis zur Sphinx, wo sich die Jungfraujoch-Bahnstation befindet.
Dabei ernteten wir komische Blicke von anderen Berggängern, welche mit der letzten Bergbahn hochgekommen und nun auf dem Weg in die Mönchsjochhütte waren. Vermutlich sahen die drei rennenden Gestalten mit roten Köpfen, eingebunden im Seil mit Steigeisen und Pickel in der Hand, tatsächlich lustig aus.
Auf unserem Schlussspurt telefonierte Tobi noch mit dem Betrieb der Jungfraubahnen und bat darum, dass sie auf uns mit dem Losfahren warten. Wir würden ein paar Minuten verspätet eintreffen.
Tobi, unser Maestro, verräumte während dem Schlusslauf die Kletterausrüstung und nahm das Seil auf, Dominik eilte voraus um Präsenz zu zeigen und ich achtete darauf das Tempo zu halten ohne dabei zu kollabieren. Schliesslich waren wir immer noch auf 3'500 Meter.
Doch die sportliche Einlage hatte sich gelohnt. Wir erreichten die Station um 16:50 Uhr, wo wir komplett ausser Puste, verschwitzt und in der vollen Klettermontur in das Abteil stürmten. Am Gurt die Eisschrauben, in der Hand den Pickel und Dominik trug sogar noch die Steigeisen!
Die Situation war so schrill, dass ich hätte lachen müssen, wäre da nicht die Maskenpflicht gewesen, was das Schnaufen nach diesem Endspurt noch zusätzlich erschwerte. Ich achtete nicht auf die Gesichter der Touristen, die sich bei uns im Abteil befanden. Doch bestimmt waren da seltsame Blicke, welche besonders zwei dieser hustenden, schwitzenden und stinkenden Alpinisten musterten, welche in einem Karacho, genau in ihr Abteil einstiegen, nachdem ihretwegen die Bahn mit einiger Verspätung losfuhr.
Eine Flut der Gefühle brach ein: Wir haben die letzte Bahn erwischt; wir waren auf dem Eiger; wir hatten weder eine brenzlige Situation noch einen Unfall; wir haben eine der ansehnlichsten und begehrtesten Bergsteigertouren der Alpen bestritten…
Um dies alles zu verarbeiten belschlossen Dominik und ich, eine Nacht in Grindelwald zu bleiben. Tobi würde weiterziehen, denn am Folgetag wartete bereits wieder Arbeit auf ihn.
Im Hotel Central Wolter mit Blick auf den Eiger, fanden wir ein Zimmer und assen auch im empfehlenswerten hauseigenen Restaurant zu Abend. Am nächsten Morgen ging es dann mit viel Erinnerungen nach Hause.
Zum Schluss noch ein Fazit von Dominik, welchem ich mich vollumfänglich anschliesse:
Die Komplettüberschreitung des Eigers (Ostegg-Grat - Mittellegi-Grat - Eigerjöcher) ist eine grosse und tolle alpine Unternehmung, welche viel Erfahrung in der optimalen Routenwahl und dem Legen von Zwischensicherungen verlangt. Mit Bergführer entschärft sich das ganze natürlich ein Stück weit. Geklettert werden muss trotzdem!
Wer wie wir in einer 3er-Seilschaft gehen will, der muss wegen der zusätzlich notwendigen Absicherung deutlich mehr Zeit einplanen. Auch das Abseilen und die Abschnitte, wo nicht am laufenden Seil geklettert werden kann, dauern deutlich länger. Selbst mit bestmöglicher Unterstützung des Bergführers (Hilfe beim Seilaufnehmen, speditives Nachklettern, Entfernen von Zwischensicherungen etc.) ist man schnell einmal bei 30% mehr Zeitaufwand. Die Tour hat uns natürlich trotzdem viel Spass gemacht, wir würden sie aber in dieser Art nicht nochmal machen und auch nicht weiterempfehlen. Wer als eingespielte Seilschaft der Tour ohne Bergführer nicht gewachsen ist, der sollte sie entweder als Einzelgast machen oder mehr trainieren ;-)
An dieser Stelle möchte ich nochmals Tobias Erzberger danken. Er hat zwei Tage lang fleissig arbeiten müssen und nie seine gute Laune verloren. Top!